Gestürzt und verletzt - was nun?

Der Sturz ist laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium [OBSAN] (2019) die häufigste Unfallart im Alter. 25,8 % der in der Schweiz lebenden Personen über 65 Jahre stürzen mindestens einmal im Verlaufe eines Jahres (OBSAN, 2019).

Stürze erfolgen nicht nur in den eigenen vier Wänden. Sie geschehen, wie der nationale Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (2019) jährlich aufzeigt, auch in den Schweizer Spitälern.

Stürze verursachen hohe Gesundheitskosten und bedeuten für viele Betroffene ein einschneidendes und beängstigendes Erlebnis (Gesundheitsförderung Schweiz, 2017). Stürze können zu Verletzungen, langen Spitalaufenthalten, Einschränkungen der Mobilität oder Verlust der Selbständigkeit führen.

Was ist ein Sturz?

Nach der World Health Organisation [WHO] (2007) ist ein Sturz ein Ereignis bei dem eine Person unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer anderen tieferen Ebene aufkommt. Ausgenommen sind absichtliche Positionsveränderungen, um sich an Möbeln, an Wänden oder anderen Gegenständen auszuruhen.

Bericht zum Sturzereignis

Frau O. ist 89 Jahre alt. Im Januar 2020 stürzte sie zu Hause und wurde ins Spital eingewiesen. Der Oberschenkelhals des rechten Beins war gebrochen. Nach einem über dreimonatigen Spital- und Rehabilitationsaufenthalt konnte sie mit Unterstützung der Spitex und Physiotherapie wieder eigenständig in ihrer Wohnung leben. Sie konnte sich selber an- und auskleiden, duschen und einfache Mahlzeiten zubereiten. Mit dem Rollator ging sie selbständig zur Busstation, zur Fusspflege, zur Coiffeuse und besuchte das Grab ihres Mannes. Gegen die wiederkehrenden Schmerzen im rechten Bein wendete sie Schmerzpflaster an. Von diesen Pflastern wurde es Frau O. übel. Sie konnte nichts essen und trank nur noch wenig. Wegen den Schmerzen und der Übelkeit wurde Frau O. Ende 2020 im Spital behandelt. In der ersten Nacht im Spital stürzte Frau O.. Wie es dazu kam, ist nicht bekannt. Frau O. erinnert sich nicht. Sie zog sich beim Sturz schwere Verletzungen zu: Hirnerschütterung, Bluterguss um die Augen, Nasenbein-, Halswirbel- und Schambeinbruch.

Frau O. benötigt seit dem Spitalaustritt zu Hause tagsüber und nachts Hilfe. Ihre Denk- und Merkfähigkeit ist beeinträchtigt und sie verlor ihre Selbständigkeit. Die Kosten für die notwendige Betreuung sind hoch.

Zum Sturzgeschehen erklärte die Pflegeperson dem Sohn, dass Frau O. anstatt zu klingeln selber aufstehen wollte. Der Sohn ist der Meinung, seine Mutter hätte besser überwacht werden sollen und die Aufsichtspflicht im Spital wurde vernachlässigt.

Frau O. will nicht gegen das Spital vorgehen. Sie schäme sich wegen des Sturzes. Der Sohn möchte nicht wider ihren Willen handeln. Trotzdem wäre er dankbar für eine Einschätzung der Patientenstelle AG/SO. Er bittet um eine neutrale Beurteilung, wie er sich für seine Mutter einsetzen kann, auch wegen der Folgekosten.

Um einen Schadenersatzanspruch geltend zu machen, muss die*der Geschädigte oder die vertretungsberechtigte Person sämtliche Haftungsvoraussetzungen (Sorgfaltspflichtverletzung, Schaden und Kausalzusammenhang) beweisen (Landolt, 2013). Folgende Fragen sind zu klären:

  • Kann eine Sorgfaltspflichtverletzung nachgewiesen werden? Welche Massnahmen wären geboten gewesen und hätten ergriffen werden müssen, um den Sturz oder die Verletzung zu verhindern?
  • Welcher Schaden ist entstanden? Ein Schaden beinhaltet Mehrkosten, Erwerbsausfälle und Genugtuung für nicht materielle Nachteile (zum Beispiel Schmerz, Leid), die infolge des Sturzes bei der geschädigten Person und den Angehörigen entstanden sind (Landolt, 2016).
  • Ist der Schaden aufgrund des Sturzes entstanden?

Sorgfaltspflicht zur Vorbeugung eines Sturzes

Vorgaben zur Sturzprävention finden sich in gesundheitsrelevanten Gesetzen und Verordnungen keine (Landolt, 2013). Berufsverbände, Ethikkommissionen und Expertengruppen haben Empfehlungen herausgegeben. Viele Spitäler und Pflegeeinrichtungen in der Schweiz verfügen über ein standardisiertes Sturzmanagement. Das Personal ist verantwortlich, dieses umzusetzen.

Wenn das interprofessionelle Team gut zusammenarbeitet, kann das Sturzrisiko bereits deutlich gesenkt werden (Freiburger Spital, 2019). Empfohlen wird im Spital oder in der Pflegeeinrichtung das Sturzrisiko der Patient*innen bei Eintritt und bis hin zum Austritt regelmässig einzuschätzen. Ziele und Massnahmen sind unter Einbezug der erfassten Risikofaktoren individuell festzulegen (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege [DNQP], 2013; National Institute for Health and Care Excellence, 2019). Um Stürze vorzubeugen, zu vermeiden oder das Verletzungsrisiko zu senken werden mögliche Massnahmen mit den gefährdeten Personen vereinbart; einerseits zu Bewegung und Training (Verbesserung von Kraft und Gleichgewicht), andererseits aber auch zu Hilfsmittel (Gehhilfen, Anti-Rutschsocken usw.) und Anpassungen im Umfeld (Entfernen von Stolperfallen, Anbringen von Handgriffen usw.) (OBSAN, 2019).

Unter Berücksichtigung der Grund- und Persönlichkeitsrechte der Patient*innen gilt es, bei der Wahl der Massnahmen darauf zu achten, dass die Bewegungsfreiheit nicht unnötig eingeschränkt wird. Laut Schweizerischem Zivilgesetzbuch (ZGB) Art. 383 dürfen bewegungseinschränkende Massnahmen nur bei einer Selbst- oder Fremdgefährdung oder bei massiver Störung des Betriebsablaufs eingesetzt werden. Dabei gilt das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Die Massnahme muss notwendig, so wenig beeinträchtigend wie möglich und geeignet sein, um die Gefahr zu minimieren (Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften [SAMW], 2015)

Einige sturzvorbeugende Massnahmen sind umstritten, weil diese mit Risiken oder Nachteilen einhergehen. Zum Beispiel

  • kann ein*e Patient*in versuchen, eine hochgezogenes Bettgitter zu überklettern und sich dabei schwerer verletzen als dies bei einem Sturz aus dem Bett der Fall wäre.
  • wird bei Einsatz einer Sensormatte oder eines Bewegungsmelders nicht zwangsläufig ein Sturz verhindert, weil es nach dem Alarm einige Zeit dauert, bis die Pflegeperson eintrifft (Landolt, 2013).

Auch wenn die Grund- und Persönlichkeitsrechte einer sturzgefährdeten Person mehr oder weniger eingeschränkt werden, können technische Hilfsmittel einen wichtigen Beitrag für mehr Sicherheit bieten. Es gilt abzuwägen, ob und welches Hilfsmittel für wen geeignet und passend ist. Dank laufender Forschung und Entwicklung stehen bereits heute intelligente Technologien zur Verfügung. Zum Beispiel kann mittels Radars die genaue Position, die Körperhaltung und den Zustand einer Person in Echtzeit ermittelt werden (Qumea, 2021).

Eine lückenlose Beaufsichtigung eines*r Patient*in mit erhöhtem Sturzrisiko im Spital überschreitet das wirtschaftlich Zumutbare. Die Kosten für Leistungen zur Sturzprävention im Sinne einer Überwachung der Pflege übernimmt die Krankenkasse nicht (Landolt, 2013).

Leistungserbringende haben eine Dokumentationspflicht. Jedes Sturzereignis sollte dokumentiert werden und Aufschluss über sturzauslösende Faktoren, Sturzzeit, -ort, -hergang und -folgen geben. (DNQP, 2019).

Was Patient*innen tun können

Patient*innen und ihre Angehörigen können dazu beitragen, Stürze zu verhindern. Sprechen Sie mit Ihren Gesundheitsfachpersonen darüber. Als Vorbereitung für einen Spitalaufenthalt empfehlen wir Ihnen den Leitfaden „Wie können Stürze im Spital vermieden werden?“ (Freiburger Spital, 2018). 

Dienstleistung der Patientenstelle AG/SO

Mit den Informationen der Patientenstelle AG/SO konnte der Sohn mit seiner Mutter ein Gespräch zum Sturzereignis führen. Gemeinsam trafen sie eine Entscheidung für das weitere Vorgehen. Im Auftrag der Klientin forderte die Patientenstelle AG/SO die vollständigen Krankenakten beim Spital an.

Bei der Beurteilung der Dokumentation stellte die Patientenstelle AG/SO fest, dass das Sturzrisiko bei Frau O. nicht eingeschätzt wurde, jedoch eine Begleitung beim Gehen als Massnahme geplant und auch durchgeführt wurde. Wann und wie diese Massnahme mit Frau O. besprochen wurde, ist nicht dokumentiert. Zudem geht aus der Dokumentation nicht eindeutig hervor, wie weit Frau O. zum Sturzzeitpunkt aufgrund ihres Gesundheitszustandes und der medikamentösen Behandlung in der Lage war, sich für eine Begleitung zu melden. Weitere sturzvorbeugende Massnahmen, wie zum Beispiel Antirutschsocken, Beleuchtung, Standort Rollator oder Bewegungsmelder, wurden laut Dokumentation nicht ergriffen. Der Sturzhergang ist im Sturzprotokoll nicht beschrieben. Es ist somit nicht klar, ob der Sturz durch eine Massnahme hätte verhindert werden können oder sogar hätte verhindert werden müssen.

Die Patientenstelle AG/SO besprach die Einschätzung mit dem Sohn der Klientin und empfahl zur Abklärung einer mutmasslichen Sorgfaltspflichtverletzung ein Gutachten von einer Fachperson erstellen zu lassen. Der Sohn lehnte dies ab. Da Frau O. keine Rechtsschutzversicherung hat, wären die Kosten für ein Gutachten für sie zu hoch. Frau O. verzichtete auf ein Verfahren mit der Haftpflichtversicherung des Spitals. Ihr Sohn sagt, durch die jetzige Hilfsbedürftigkeit und die Schmerzen habe seine Mutter mehr als genug zu bezahlen.

Die Unterstützung der Patientenstelle AG/SO schätzten Frau O. und ihr Sohn sehr. Gut informiert konnten sie die für sie passenden Entscheidungen treffen.

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