Long-COVID-Syndrom
Inzwischen haben sich in der Schweiz mehr als 800.000 Menschen mit dem neuen Corona-Virus infiziert, das seit 2019 das Tagesgeschehen bestimmt. Bei vielen Betroffenen sind die Erkrankungssymptome mild und dauern nur kurz an. Aktuelle Berichte deuten an, dass bei einigen Patienten auch nach nur leichten Symptomen in der Akutphase lang anhaltende Symptome das Wohlbefinden dauerhaft beeinträchtigen können. Hierzu gehören Müdigkeit, rasche Erschöpfung oder Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen. Tobias Piroth, Oberarzt am Kantonsspital Aarau fasst die aktuellen Erkenntnisse zum "Long COVID-Syndrom" zusammen.
Die 2019 erstmals beschrieben Corona-Virus-Erkrankung (CoVID-19) hält die Welt seit bald zwei Jahren in Atem und hat zu Einschränkungen geführt, die in vielen Ländern zuvor undenkbar waren. Auslöser ist ein Virus aus der Gruppe der Corona-Viren. Das lateinische Wort corona bedeutet „Kranz“ oder „Krone“ und beschreibt gut das elektronenmikroskopische Bild des Virus. Auf Grund der schwerwiegenden Lungenentzündung, welche bei einigen Infizierten auftritt, wird das neue Virus als „schweres akutes respiratorisches Syndrom-Coronavirus“ (abgekürzt SARS-CoV) 2 bezeichnet. Der Zusatz "2" weist darauf hin, dass sich bereits 2002 eine Infektionswelle mit einem ähnlichen, jedoch noch tödlicherem Virus ereignet hatte. Das Virus war damals als SARS-CoV(-1) bezeichnet worden. Aktuell (Stand: 10/2021) sind allein in der Schweiz über 800‘000 Patient*innen positiv aus SARS-CoV-2 getestet worden und über 11‘000 Patient*innen in einem Zusammenhang mit der Infektion gestorben. Weltweit sind fast 250 Millionen Menschen erkrankt mit fast 5 Millionen Todesfällen.
Die COVID-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Daher haben Wissenschaftler weltweit mit der Erforschung von Mechanismen und Auswirkungen dieser neuen Krankheit begonnen. Die Infektion durch das SARS-CoV-2-Virus kann asymptomatisch verlaufen oder sich mit einer Geruchs- und Geschmacksstörung, Fieber, Muskelschmerzen, Müdigkeit und Abgeschlagenheit manifestieren. Gefürchtet sind schwerwiegende Verläufe mit einer massiven Lungenentzündung oft im Rahmen einer schweren Entzündungsreaktion im gesamten Körper.
Müdigkeit und rasche Erschöpfung
Bereits bei früheren Coronavirus-Ausbrüchen etwa mit dem genannten SARS-CoV-1 oder später dem MERS-Virus waren Spätfolgen bei einem grossen Teil der Überlebenden berichtet worden, beispielsweise eine gestörte Lungenfunktion, aber auch eine anhaltend erhöhte Rate an Herz- und Gefässerkrankungen während mehrerer Jahre nach der Infektion. Bei der aktuellen Pandemie berichten einige Patient*innen noch Wochen oder Monate nach einer vergleichsweise harmlosen Akutphase über anhaltende Symptome. In den Medien häufen sich vor allem Berichte von Müdigkeit und rascher Erschöpfung nach geringer körperlicher Belastung (oft als „Fatigue“ bezeichnet). Einige Patient*innen klagen ausserdem über Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Manche müssen deshalb ihre berufliche Tätigkeit einschränken oder aufgeben. In den Fokus von Medien und Wissenschaft gelang das Thema auch durch den Austausch der Betroffenen in sozialen Medien. Der Begriff „Long CoVID“ wurde öffentlich erstmals von der Archäologin Elisa Perego im Jahr 2020 auf Twitter verwendet. Inzwischen wurde der Fachbegriff „Post-Acute Sequelae of SARS-CoV-2 Infection“ (PACS) eingeführt.
Mehrere Länder haben bereits frühzeitig nach Beginn der Pandemie nationale Initiativen zur Erforschung und Behandlung der langfristigen COVID-19 Folgeerkrankungen gestartet. So existieren in Grossbritannien inzwischen über 80 Sprechstunden bzw. Kliniken und auch eine nationale Richtlinie für Diagnostik und Therapie des "Long-COVID"-Syndroms. Dennoch fügen sich erst nach und nach wissenschaftliche Veröffentlichungen zu einem einheitlichen Bild der Erkrankung zusammen. Verlaufskontrollen nach unterschiedlich schweren COVID-Erkrankungen in China ergaben sechs Monate nach Infektion eine hohe Rate von Patient*innen mit anhaltendem Fatigue, Muskelschwäche, Schlafstörungen, Angststörungen oder Depressionen. In einer US-amerikanischen Studie wurden Fragebögen bei anfangs wenig betroffenen Patient*innen auswertet. Nach 60 Tagen fanden sich bei 77.1% der Teilnehmer anhaltende Beschwerden. Bei den meisten Patient*innen bestanden mehrere Symptome gleichzeitig. Eine andere Untersuchung wertete die Daten einer Smartphone-App aus, mit deren Hilfe Teilnehmer*innen in den USA, Grossbritannien und Schweden Symptome ähnlich einem Tagebuch erfassen konnte. 558 von 4188 Nutzer*innen der App berichteten Symptome, welche mehr als 28 Tage andauerten. Nur 2.3% klagten über Symptome, welche mehr als 12 Wochen andauerten. In dieser Studie fanden sich auch Hinweise, dass ein zunehmendes Alter, weibliches Geschlecht und Übergewicht ein Risikofaktor für lang anhaltende Symptome sein könnten. In einer spanischen Studie wurden 277 Patient*innen mit leichten und schweren COVID-Verläufen untersucht. Nach 77 Tagen gaben noch ca. 50% der Patient*innen Beschwerden an, welche aber überwiegend mild waren. Trotz der umfangreichen körperlichen Charakterisierung konnte in dieser Untersuchung kein Risikofaktor der Beschwerden gefunden werden.
Chronische Schädigung des Gehirns?
Zusammengefasst zeigt sich, dass oft auch bei akut nur wenig betroffenen Patient*innen vielfältige Langzeit-Symptome entwickeln können. Besonders häufig werden in den aktuellen Studien Symptome des Nervensystems, z.B. eine erheblich verminderte Belastbarkeit, raschere Ermüdbarkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen erwähnt. Aus diesem Grund wird seit Beginn der Pandemie immer wieder spekuliert, ob die SARS-CoV-2-Infektion auch das Nervensystem schädigt, und ob ein solcher Schaden dauerhaft sein könnte. Solche Befürchtungen kamen schon zu Beginn der Pandemie auf, als Geruchsstörungen als typisches Frühsymptom einer COVID-Erkrankung beschrieben wurde. Die Geruchs-Sinneszelle der Nase könnten nach dieser Vorstellung eine direkte Eintrittspforte in das Gehirn sein. Eine Verminderung des Geruchssinns kommt auch bei verschiedenen chronischen Gehirnerkrankungen vor, etwa bei der Alzheimer- oder Parkinson-Erkrankung. Detaillierte Untersuchungen lassen jedoch vermuten, dass die Geruchsstörung häufig nur durch die Entzündung der Nasenschleimhaut, nicht jedoch durch einen Befall der Geruchs-Sinneszellen zustande kommt. Überhaupt scheinen Nervenzellen weniger ein direktes Ziel des Virus zu sein. In den veröffentlichten Autopsie-Studien fand sich das Virus nur sehr selten im Gehirn und in Nervenzellen. Verschiedene Untersuchungen haben inzwischen Hinweise darauf ergeben, dass es auch bei scheinbar milden Verläufen zu Veränderungen oder Schäden am Nervensystem und besonders am Gehirn kommen könnte. So finden sich im Gehirngewebe neben den Nervenzellen auch Stützzellen, Gefässzellen und Entzündungszellen. Die Stützzellen, auch als Astrozyten bezeichnet, könnten ein bevorzugtes Ziel des Virus innerhalb des Nervengewebes im Gehirn sein. Gefässzellen sind im gesamten Körper besonders betroffen und können das Virus aufnehmen. Sind sie im Gehirn befallen, könnte dies zu Durchblutungsstörungen und somit zu einer indirekten Schädigung des Gehirns kommen. Auch die Entzündungszellen des Gehirns zeigen bei verstorbenen COVID-Patient*innen Zeichen einer starken Aktivierung und könnten so ebenfalls zu einer chronischen Schädigung des Gehirns beitragen. In einer (jedoch noch nicht begutachteten) wissenschaftlichen Arbeit aus Grossbritannien wurden Veränderungen der Gehirnsubstanz untersucht. Patient*innen waren im Rahmen eines langfristigen Forschungsprojektes in regelmässigen Abständen mittels Kernspintomographie untersucht worden. Daher konnten dann Aufnahmen vor und nach COVID-Infektion mit einem Computer-Algorithmus verglichen werden. Diejenigen Proband*innen, die sich im Laufe der Pandemie mit SARS-CoV-2 infiziert hatten, wiesen laut Autoren in einigen Hirnregionen eine Abnahme des Volumens auf, welche über das durch Alterung zu erwartende Mass hinausging. Dennoch ist es keineswegs belegt, dass es regelhaft bei der COVID-Erkrankung zu einer bleibenden Schädigung von Nervengewebe oder einer Störung der Hirnfunktion kommen kann. Diskutiert wird aber auch, dass es als Folge der Infektion zu einer Aktivierung des Immunsystems kommt, welches sich dann gegen Bestandteile des eigenen Körpers richtet (Autoimmun-Phänomene). Hierauf deuten die Ergebnisse weiterer Untersuchungen hin, die gezeigt haben, dass bei Patient*innen mit Long-COVID-Beschwerden verschiedene gegen den eigenen Körper gerichtete Antikörper gefunden werden können.
Die Langzeit-Symptome nach einer COVID-Infektion sind also vielfältig und die genauen Ursachen sind noch nicht verstanden. Daher ist die Abklärung und Behandlung eine Herausforderung.
Spezialisierte Sprechstunde
Wir betreuen am Kantonsspital Aarau (KSA) Patient*innen, welche sich mit anhaltenden Symptomen nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion vorstellen, im Rahmen einer spezialisierten Sprechstunde. In einer ersten ärztlichen Konsultation werden die Symptome erfasst und das weitere Vorgehen zur Abklärung festgelegt. Je nach individuellen Beschwerden werden andere Fachdisziplinen hinzugezogen, beispielsweise Neuropsycholog*innen, die die Hirnleistungsfähigkeit erfassen, oder Lungen- oder Herzspezialist*innen. Anschliessend erfolgt eine Befundbesprechung und es werden Therapievorschläge unterbreitet. Die Behandlung ist sehr individuell und richtet sich nach den jeweiligen Symptomen. Eine anerkannte allgemeine medikamentöse Therapie existiert noch nicht. Patient*innen mit Fatigue-Beschwerden wird je nach Ausmass zu einer vorübergehenden Reduktion des Arbeitspensums geraten. Ergotherapeut*innen können mit den Patient*innen Energiemanagement-Strategien einüben, die solange angewendet werden, bis die Belastbarkeit wieder gebessert ist. Patient*innen mit Lungen-Symptomen profitieren oft von einer Atemtherapie. Nicht selten finden sich durch die gründliche Abklärung der Symptome auch bislang unerkannte Grunderkrankungen, die für die Beschwerden verantwortlich sind. So kann eine Schilddrüsenerkrankung ebenfalls zu Müdigkeit führen und ist heute in der Regel leicht zu behandeln. Kopfschmerzen können durch eine Migräne ausgelöst werden. Andererseits gilt es auch, Komplikationen einer COVID-Erkrankung zu erkennen. So ist bei Patient*innen das Risiko für Schlaganfälle, Herzerkrankungen oder Thrombosen erhöht.
Wir empfehlen Patient*innen, die sich nur langsam von einer COVID-Erkrankung erholen, sich zunächst an den Hausarzt/die Hausärztin zu wenden. Sollte die Abklärung und Behandlung hier keine Besserung ergeben, ist jedoch eine Zuweisung in eine Spezialsprechstunde anzuraten. Weitere Informationen haben wir auf einer eigenen Informationsseite unter www.ksa.ch/long-covid zusammengestellt.